Der nicht genommene Weg

Weggabelung

Mit diesem Artikel nehme ich an der Zielbar-Blogparade „Entscheidungen“  teil, deren Beiträge unter #entscheidungtreffen gesammelt werden.

Jahresende. Zeit für ein Fazit. Haben sich die getroffenen beruflichen Entscheidungen als richtig oder als falsch erwiesen? Jene, die im abgelaufenen Jahr wichtige Entscheidungen darüber getroffen haben, welchen Berufsweg sie einschlagen oder weiterverfolgen sollen, werden sich diese Frage sicher stellen. Vielleicht war ein großer Richtungswechsel dabei, der auf Unverständnis bei Familie und Freunden stieß, vielleicht fiel die Wahl auf das Naheliegende, vielleicht wurde die Entscheidung auch einfach auf später verschoben.

In diesem Blog stelle ich Menschen vor, die einen so genannten Patchwork-Lebenslauf haben, die verschiedene Berufe erlernt, ausgeübt und wieder abgelegt haben. Die sich immer wieder neu entschieden haben. Mich interessiert, wie sie zu der jeweiligen Entscheidung kamen. Kam sie aus dem Bauch heraus oder war es eine analytische Lösung? War es ein von außen vorgegebener Weg oder ein eigener Entschluss? Oder fällt ihnen gar die Entscheidung, das Festlegen auf eine Richtung schwer? Die Antworten sind so vielzählig wie die Lebenswege. Und inzwischen weiß ich: Es gibt keinen goldenen Weg. Es gibt nur den Weg, den jeder in dem ihm eigenen Tempo geht. Und erstaunlicherweise: die Entscheidung, welche Abzweigung des Weges jemand nimmt, ist letztendlich gar nicht so wichtig.

Damit beschäftigte sich auch der amerikanische Dichter Robert Frost, der vor genau 100 Jahren eines seiner bekanntesten Gedicht schrieb: „The Road Not Taken“ – du kennst es vielleicht aus dem Film „Der Club der toten Dichter“ (am Jahresende darf es ein bisschen Poesie sein.) Frost beschreibt darin zwei Wege im Wald, die praktisch identisch sind. Am Schluss trifft der Wanderer eine Wahl und weiß, dass er Jahre später sinnieren wird, warum er seine Wahl so und nicht anders getroffen hat.

The Road Not Taken

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads on to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I —
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

Robert Frost (1874–1963)

Interessant ist, dass sich Robert Frost viele Jahre später bekümmerte, sein Gedicht sei von den meisten Lesern falsch interpretiert worden: Die Mehrzahl würde es als einen Aufruf zum freien Denken verstehen; man solle nie der Masse folgen, sondern auf sein eigenes Urteil vertrauen. Seine Intention war aber, ein nicht ganz ernst gemeintes, eher spottendes Statement über die Unentschlossenheit vieler Menschen abzugeben. Er wollte über Menschen urteilen, die inkonsequente, aber belanglose Entscheidungen hinterher rechtfertigten.

Mal davon abgesehen, dass Gedichte von jedem so interpretiert werden dürfen, wie es in die jeweilige Gedanken- und Gefühlswelt passt, und dass jeder Leser genau das wahrnimmt, was das Gedicht bei ihm wachruft, finde ich, die vier Strophen passen auch sehr gut auf den Rückblick, den viele Menschen auf ihren Berufsweg werfen, sei es am Jahresende oder in einem größeren Zeitrahmen.

Ist es ein bedauernder Rückblick, der sich an verpassten Chancen und Fehlentscheidungen aufhängt?

Hätte ich damals nur BWL statt Ägyptologie studiert, könnte ich heute … / Hätte ich lieber Work&Travel in Australien gemacht, statt ein Praktikum beim Steuerberater, dann wäre mir früher klar geworden, dass … / Weil ich im Familienunternehmen aushelfen musste, konnte ich nie …

Oder ist es ein wohlwollender, akzeptierender Rückblick?

Obwohl ich ungern mit fremden Menschen rede, habe ich als Auszubildender im Verkauf gelernt, über meinen Schatten zu springen / Das Praktikum war zwar langweilig, aber ich weiß jetzt, was Excel ist / Meine kreative Seite kann ich im Brotberuf nicht ausleben, aber was spricht gegen ein zweites Standbein auf Dawanda

Ich bin überzeugt, dass im Fazit nicht die Frage nach richtiger oder falscher Entscheidung angebracht ist, sondern die nach den Erkenntnissen und Erfahrungen, die sich ergeben haben. Jammern nützt nichts, und jede Rechtfertigung ändert ja nichts an der Lage. Die Entscheidung ist damals nun einmal so gefallen, wurde mit dem damaligen Wissen und unter den damaligen Voraussetzungen getroffen. Doch allein die getroffene Entscheidung war der allererste Schritt, dass sich überhaupt etwas bewegt hat. Und wer sagt denn, dass sich Lebenswege nicht korrigieren lassen. Wichtig ist nur, dass dem Zurückblickenden klar ist, wo er jetzt und heute steht, und welche Konsequenzen neue Wege mit sich bringen. Warum also nicht 20 Jahre später BWL studieren, wenn es jetzt als das Richtige erscheint?

Allen, die im nächsten Jahr vor wichtigen Entscheidungen in Sachen Aus- und Weiterbildung oder auch Umorientierung stehen und denen diese Entscheidung schwerfällt, möchte ich mitgeben: Nicht die Wahl des Berufsweges ist entscheidend, sondern die Art und Weise, wie er begangen wird. Der nicht genommene Weg stellt keine verpasste Chance dar, sondern ist schlicht ein nicht genommener Weg. Es gibt andere.

Bild Weggabelung: Ivi/pixelio.de